“Klopf Klopf”: Wenn politische Verfolgung an die Tür klopft
Letzten Dienstag, den 19. November 2019, gegen 21 oder 22 Uhr, gibt es plötzlich ein lautes Klopfen an der Holztür. Aus dem Fenster meines Zimmers kann ich gerade noch auf die Straße blicken, wo ein Polizeibeamter mit scharfer Munition und Spezialausrüstung und ein anderer in Zivilkleidung stehen. Der zweite winkt mir zu. Ich habe keine Ahnung, ob es darum geht, ihnen die Tür zu öffnen, oder ob sie die Polizeibeamten, die an der Tür stationiert sind, zum Handeln aufrufen.
Meine Reaktion: mich sofort anzuziehen. Ich ziehe hastig Jeans, Socken und gerade noch eine der zwei Pantoffeln an. Sekunden zuvor hatte die Polizei mit einem einzigen lauten Schlag die Tür geöffnet. Ich versuche jetzt, meine jüngere Schwester zu alarmieren und will sie beruhigen. Meine Schreie sind nicht zu hören.
Die beiden Polizisten, die ich noch kurz zuvor vor meiner Haustür gesehen hatte, betreten nun mein Zimmer mit ihren Waffen in bedrohlicher Pose. "Das Handy, das Handy, gib mir das Handy", ruft einer. Zwischen Angst und Verwirrung bin ich nicht in der Lage, zu reagieren. Sofort erscheint der Polizeibeamte, der die "Operation" leitet. Er besteht auf das Handy; ich fühle mich wie auf nichts reduziert und hoffe in diesem Moment auf das Schlimmste. Sie fragen nach der Existenz von Waffen. "Welche Waffen?, antworte ich.
Ich schaue einem von ihnen in die Augen und erkenne einen “Jungen”, kaum alter als 30. Ich spüre in seinem Blick Angst und Wut, und versuche mir vorzustellen, welches Bild sie ihm während seines Trainings eingeprägen. Dachte diese Junge vielleicht, er würde heute in meinem Haus auf einen Subversiven oder sogar ein Terroristen treffen?
"Sichert den Ort ab", signalisieren plötzlich Stimmen. Die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft betreten nun den Raum und machen mir klar, dass es sich hier um eine polizeiliche Durchsuchung handelt und dass "nichts weiter" sei. Ich bitte die Anwesenden nun um den entsprechenden Durchsuchungsbefehl. Im Laufe der Nacht und den frühren Morgenstunden würden weitere sechs Hausdurchsuchungen in verschiedenen Teilen der Stadt stattfinden. Das Motiv nach der Ansicht des Staates: "Ermittlungen wegen Rebellion". Für mich bedeutet es pure und blanke politische Verfolgung.
Die Durchsuchung beginnt mit der klaren Abischt der Beschlagnahmung aller technologischen Geräte. Die Polizisten fragen mich nach den Passwörtern meines Handys und Laptops; letzteren hatte ich erst kürzlich erworben. Mein wertvolles Arbeitsinstrument, denke ich in diesem Moment. Dann wiederholen die Beamten das Vorgehen mit dem Tablett meiner Schwester und ihrem Handy, eine komplett unnötiges Verfahren. Nachdem ich mehrmalig darauf hinweise, bestehen die Beamten darauf, dass dies das "Standardverfahren" sei. Während meine Schwester schluchzend und weinend vor den Beamten zusammenbricht, bittet mich ein Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft, sie zu beruhigen. Ich frage mich in dem Moment: Wie soll jemand reagieren wenn Polizisten, die bis auf die Zähne bewaffnet sind, gewaltsam in deren intimsten Ort eindringen?
Sie kemmen nun durch sämtliche Bücher, Kopien und Aufzeichnungen; schauen unter das Bett,zwischen den Schränken, auf der Suche nach allem, was dem Verdacht der "Rebellion" bekräftigen könnte. Sie packen ein Poster ein, welches ein Souvenir einer Gewerkschaftsmobilisierung zum 1. Mai 2016 in Madrid ist mit dem Titel: "Fight for your rights", und nehmen dazu einen Notizblock des Regionalverbandes der Gewerkschaftsorganisationen (FRECOOS) mit. Sie finden ein weiteres Poster, diesmal von einem kurdischen Festival in Hamburg aus dem Jahr 2017. Die Beamten verstehen kein Deutsch sowie auch ich nicht und machen daraufhin ein Foto. Sie fragen mich nach einem Siebdruck, der mir kürzlich ein Freund geschenkt hatte. "Immer standhaft", steht ein Text unter einer Faust und einem Stern. "Was bedeutet das?", fragt einer der Beamten. "Es ist ein Kunstwerk”, antworte ich darauf. Die Polizeibeamten gratulieren mir zu der Ordnung des Hauses und betrachten nun die Kunstwerke, die an den Wänden hängen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie sie bewundern oder was sonst sie sich dabei denken.
Ich bin generell überrascht durch die "Genauigkeit" und "Detailhaftichkeit" der Durchsuchung. Die Beamten nehmen keine Bücher mit.
Es entstehen nun weitere Fotos und Videoaufnahmen, in dem Vorhaben, alles zu dokumentieren. Ich frage sie, ob ich oder meine Schwester mit ihrem Handy nicht das selbe tun könnten. Ich hatte vergessen, dass ihr Handy soeben als Beweismittel beschlagnahmt wurde. Mir wurde klar, dass ich mich schwer geirrt hatte. In diesem Moment existieren für uns keine Rechte; die einzige Legitimität kommt letztendlich von der Durchsetzungskraft des Staates.
Wir verlassen dann zusammen den Raum, und sie bitten mich, sie zu begleiten, um nun alle Räume durchsuchen. Das Haus ist groß, und wir begeben uns durch jedes Zimmer, gehen in die Küche, ins Badezimmer, in den Garten, auf die Terrasse und sogar in den Hühnerstall; "Hier sind die Terroristen" scherze ich in Bezug auf die Hühner.
Während der Durchsuchung kommt gerade meine zweite Schwester an. Sich macht sofort einen starken und ernsten Auftritt. Sie so zu sehen, hat eine beruhigende Wirkung auf mich und unsere jüngere Schwester.
Sie fragen mich, ob ich eine gezielte Person kenne, worauf ich zustimme. Ich denke in dem Moment, dass ich nichts zu verbergen hätte. Wir sprechen über den Steik in Ecuador während der ersten zwei Wochen vergangenen Oktobers und einer der Polizeibeamten erzählt mir, er schreibe gerade über dieses Thema eine Abschlussarbeit. Ich teile mit ihm ein paar Hypothesen und bestehe auf meinen beruflichen Werdegang: Soziologie und Journalistik. Ich weiß nicht, ob es die Beamten überrascht, dass ich ein Masterstudium hinter mir und dazu Interesse an einer Promotion habe, als ob das womöglich etwas ausmachen könnte. Ich empfehle einen Text über Sicherheit- und Geheimdienststudien, den ich während meines Masterstudiums gelesen hatte. Daraufhin schreibt der Beamte den Titel und Autor auf; ich habe Unahnung, ob dieser Text ihm nützlich sein könnte.
Ich spreche das Thema des Streiks an, spreche mit den Polizeibeamten über politische Verfolgung, über den Fall des Rechnungshofes. Sie antworten mir daraufhin mit den Worten: "Wie erklärern Sie das gleiche Phänomen in Bolivien, Chile und Ecuador? Die Antwort scheint offensichtlich: die Wiederkehr des Neoliberalismus und des Faschismus.
Wir diskutieren über correísmo1. Ich frage sie: "Ist die Hegemonie bei den Wahlen auf die Straße übertragbar und umgekehrt?". Einer der Beamten stimmt der These zu. "Wie kann es dann möglich sein, dass eine politische Identität, deren breiteres politisches Kapital ausschliesslich in Wahlzetteln messbat ist, einen nationalen Streik hätte organisieren können, wie wir ihn im Oktober erlebt haben? Der Steik überflutete das politische und soziale Spektrum, von correístas hin bis zu nicht-correístas, der CONAIE2 und auch dem FUT3. Am Ende war es die Bevölkerung im weitesten Sinne. Einige Gruppen kamen letztendich an den Dialogtisch und andere nicht, was sich letztenendes in eine nur teilweise Errungenschaft für die Bevölkerung übersetzt. In unserer Diskussion bleibt der Verdacht unter mir und den Beamten bestehen. Wir befinden uns klar an verschiedenen Seiten, unsere Ansichten auf die Thematik verhalten sich wie Wasser und Öl. Wir werden uns nicht einigen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Sündenböcke die AnarchistInnen und KommunistInnen, die angeblich "Kinder assen und den Teufel anbeteten". Heute sind die Sündenböcke die correístas. Es hilft nicht, sich vom correísmo zu "distanzieren", um vergeblich der Verfolgung entkommen zu wollen. In dem Eifer dieses Versuches reproduzieren diejenigen letztendlich den dominanten Diskurs, und werden dann als "Verdächtige" verfolgt. Es kommen mir in diesem Moment die Worte eines Freundes in den Kopf: "Wenn du kein correísta bist, machen sie dich zu einem. Dann hast du keine andere Wahl".
Kurz vor Mitternacht machen sich die Beamten bereit, das Haus zu verlassen. "Nichts Persönliches, Sie wissen, alles ist Teil des Verfahrens"."Wir sollten über diese Dinge ein andermal diskutieren", sagt einer der Polizeibeamten in Bezug auf unser "akademisches" Gespräch, worauf ich ihm lächelnd antworte: "hoffentlich sehen wir uns nie wieder". Wir lachen für einen Moment.
Ich unterschreibe das Durchsuchungsprotokoll, und sie geben mir am Ende eine Kopie des Durchsuchungsbefehls. Es stellt sich heraus, dass die Beamten die ganze Zeit eine Kopie mit sich trugen. Zuvor hatten sie mich noch darum gebeten, zur Staatsanwaltschaft zu gehen und nach einer zu fragen. "Nach ein paar Wochen, ungefähr in 30 Tagen, könnenn Sie dann ihre Sachen abholen". Ich denke mir, wie das gehen soll, wenn ich keinen einzigen Verweis auf die Sachen im unterschriebenen Dokument habe. Wer bitte kann das garantieren? Ich erinnere mich an meinen Laptop, den ich so mochte, obwohl ich mich normalerwiese nie an materielles gebunden fühle.
Ich begleite die Beamten zur Tür, woraufhin sie sich verabschieden. Eine Mitarbeiterin der Staatsanwaltschaft verabschiedet sich mit mütterlichem Ton und bewundert das Haus erneut. "Hier könnte man eine gute Party feiern". "Ihr Haus ist so ordentlich, Sie sollten meins mit zwei Kindern sehen". Ich biete ihr jederzeit meine Hilfe und sogar eine Henne für eine gute Brühe an.
Der Tag endet damit, dass ich und meine Schwestern versuchen, zusammen die Geschehnisse in Geschwisterliebe zu verarbeiten. In diesem Moment denke ich, dass das Einzige, was uns jetzt noch bleibt, die Ideologie, unsere eigene Stärke und unser Lebensgefühl sind.
Referenzen:
1Anhänger des Ex-Präsidenten Rafael Correas. Dieser Begriff wird heute jeglicher politischer Dissidenz in Ecuador angeheftet
2Confederación de Nacionalidades Indígenas del Ecuador (Konföderation Indigener Nationalitäten Ecuadors)
3Frente Unitario de Trabajadores (Einheitliche Arbeiterfront, grösste Gewerkschaft Ecuadors)